Das werbefreie soziale Netzwerk App.net gibt seinen zahlenden Nutzern jeweils zehn Gigabyte Cloudspeicher und Entwicklern eine passende API, um Datenportabilität zu fördern. Immer deutlich wird, in welche Richtung sich das US-Startup entwickeln will.
“Man könnte ein Facebook auf Basis dieser Schnittstelle bauen”. Mit dieser pointierten Aussage kommentiert App.net-Gründer Dalton Caldwell im Interview mit The Verge die Veröffentlichung einer neuen API, die den als Twitter-Alternative angetretenen Dienst in eine Plattform mit Speicherplatz für die Ablage persönlicher Daten verwandelt. In der Nacht gab App.net im Unternehmensblog bekannt, für jedes kostenpflichtige Nutzerkonto zehn Gigabyte Cloudspeicher bereitzustellen, der sich für das Hosten von Fotos oder anderen persönlichen Dateien verwenden lässt. Anwender können mit App.net interagierenden externen Applikationen Zugriff auf diese Dateien geben. Was im ersten Moment nach dem hundertsten Webspeicher-Feature klingt, reicht in seiner potenziellen Tragweite deutlich darüber hinaus.
Zuvor jedoch ein Einschub für alle, die App.net schon wieder vergessen haben: Initiator Caldwell gelang im Sommer vergangenen Jahres der Coup, über eine Crowdfunding-Kampagne 800.000 Dollar für einen offenen, nicht über Werbeinnahmen monetarisierten Microbloggingdienst einzusammeln. Kurz zuvor hatte Twitter mit signifikanten Limitierungen seiner Entwicklerplattform gezeigt, dass es die Interessen der Werbekunden vor die der Anwenderschaft stellt. Anfangs wurde App.net als kostenpflichtige Alternative zu Twitter wahrgenommen. Caldwell deutete aber später an, den Service irgenwann auch nicht zahlenden Anwendern zugänglich machen zu wollen. Die relativ neue Option für Mitglieder, ihre Freunde zu einmonatigen Gratisaccounts einzuladen, ist ein erster, zaghafter Schritt in diese Richtung. In den vergangenen Monaten legte sich das Startup aus San Francisco ordentlich ins Zeug, um das trotz der anfänglichen Aufmerksamkeit auftretende Henne-Ei-Problem von zu wenig Usern und zu wenig auf App.net aufbauenden Apps zu entschärfen. Derzeit jedoch ist der Weg zum magischen Tipping Point noch weit.
Freiheit von Werbung und Datengier als Alleinstellungsmerkmal
Wirft man einen Blick auf die App.net-Homepage, begrüßt einen an zentraler Stelle das klare Produktversprechen des jungen Unternehmens: “App.net Is an Ad-Free Social Network”. App.net ist ein werbefreies soziales Netzwerk. Caldwell und sein Mitgründer und CTO Bryan Berg sehen das Alleinstellungsmerkmal von App.net weder darin, dass Nutzer bares Geld auf den Tisch legen müssen, noch in seiner bisherigen Außenwahrnehmung als offener Twitter-Konkurrent. Worum es dem Duo geht, ist die Bereitstellung einer leistungsfähigen Social-Networking-Plattform, die im Gegensatz zu Facebook, Twitter und Google nicht direkt oder indirekt durch Werbung monetarisiert wird. Wie die bisherige Geschichte werbefinanzierter Social-Web-Angebote zeigt, lassen sich die Interessen der Werbungtreibenden, die der Entwickler-Community und die der Nutzer nicht dauerhaft unter einen Hut bringen. Relativ unpopuläre Maßnahmen wie das Einsperren von Anwendern innerhalb der geschlossenen digitalen Mauern des Anbieters sowie die weitreichende Nutzbarmachung ihrer persönlichen Aktivitätsdaten und Interessensmerkmale zu Vermarktungszwecken signalisieren, dass die derzeitigen Geschäftsmodelle der erfolgreichen Betreiber sozialer Netzwerke Wünsche offen lassen.
Hier setzt App.net an. Das Unternehmen zielt darauf ab, dank direkter, von einem Teil der Anwendern entrichteter Mitgliedererlöse nicht auf eine Werbevermarktung und die damit für User verbundenen Unannehmlichkeiten angewiesen zu sein. Ob dieses Kalkül aufgeht, steht zum jetzigen Zeitpunkt noch in den Sternen. Ähnliche Versuche in der Vergangenheit, allen voran das ebenfalls über Crowdfunding finanzierte Diaspora, scheiterten mangels Interesse einer breiteren Öffentlichkeit. Doch im Gegensatz zu dem unerfahrenen, sehr naiv wirkenden Team hinter Diaspora blickt Caldwell auf viele Jahre unternehmerischer Erfahrung im Silicon Valley zurück. Und anders als Diaspora, das sein Heil in der Bereitstellung einer für Endnutzer mit Einstiegsbarrieren verbundenen dezentralen Netzwerk-Lösung sah, wird App.net zentralisiert betrieben und fokussiert sich gänzlich auf die Bereitstellung von APIs für externe Programmierer.
Das einzigartige Versprechen von App.net an Entwickler
Sollte das Geschäftsmodell aufgehen, dann kann App.net Entwicklern ein Versprechen geben, zu dem Facebook und Twitter aufgrund ihrer notwendigen Rücksichtnahme auf Werbekunden nicht in der Lage sind: Nämlich nicht unvermittelt den API-Zugriff zu beschränken oder zu sperren, um eine unangenehme Konkurrenzsituation zu vermeiden (Beispiel Facebook) oder ein bestimmtes Nutzerverhalten zu erwirken, welches sich positiv auf die Einblendung von Anzeigen auswirken soll (Beispiel Twitter).
Mit dem jetzt verkündeten Debüt der File API unterstreicht das kalifornische Startup seine Ambition, eine soziale Plattform zu errichten, die ihre Anwender im Gegensatz zur Konkurrenz nicht einschließt. Alle Dateien und Inhalte, die User bei dem Dienst über damit verbundene Apps ablegen, stehen über sämtliche mit App.net integrierten Anwendungen zur Verfügung und lassen sich zwischen diesen hin- und herschieben. ReadWrite-Autor Jon Mitchell bringt hierbei das Beispiel Instagram ins Spiel: Nutzer, die nach dem Ärger über die neuen AGB etwa von Instagram zu EyeEm oder Flickr umziehen wollten, mussten dafür erst einmal passende Tools suchen – Instagram, aber auch Facebook selbst oder Twitter haben schlicht kein Interesse daran, dass Nutzer mit möglichst minimalem Aufwand ihre Daten an andere Orte im Web exportieren können, weshalb es je nach Datentyp nur über Umwege oder auch mal gar nicht möglich ist.
App.net fehlt der Anreiz, Nutzer einzuschließen
Das Konzept von App.net macht alle derartigen Restriktionen überflüssig, weil diese nicht mit monetären Vorteilen für das Unternehmen verbunden sind. Da App.net von Nutzern finanziert wird, steht einzig und allein die Schaffung zufriedener Mitglieder im Vordergrund. Anders bei Facebook und Twitter: Dort sind abhängige, eingeschlossene Gratis-Mitglieder das Ideal. Denn diese garantieren am ehesten dauerhafte Werbeeinnahmen.
Einmal davon abgesehen, dass App.net momentan keine fortgeschrittenen Funktionen zum Synchronisieren und Verwalten von Dateien in der Cloud anbietet, wie man dies von Dropbox kennt, so ähnelt das anvisierte Geschäftsmodell dem des populären Speicheranbieters: Intensivnutzer zahlen Geld für ihre Partizipation und finanzieren dabei die Gratis-Mitgliedschaften der Wenignutzer mit – die als Botschafter auftreten und freiwillig die Akquisition neuer User übernehmen. Während Dropbox aber ausschließlich Speicher und APIs für den Zugriff aus externen Apps auf die Dateien bietet, kombiniert App.net dies mit einer Social-Networking-Infrastruktur
Preisdifferenzierung als Balanceakt
Bisher existieren bei App.net noch keine dauerhaften Gratis-Accounts. Doch das bei ReadWrite beschriebene Gedankenspiel erscheint plausibel: Durch die Einführung von zehn Gigabyte Storage für zahlende App.net-Nutzer öffnet das US-Startup die Tür für eine Preisdifferenzierung: In Zukunft könnte die Bezahlpflicht für die Verwendung der Social-Networking-Features von App.net verschwinden. Wer aber eine Datencloud sowie Zugriff auf diese über jede Anwendung aus dem App.net-Ökosystem wünscht, der zahlt dafür den monatlichen Mitgliedsbeitrag von fünf Dollar.
Eine häufig von Kritikern geforderte Alternative zu dem von Twitter eingeschlagenen Monetarisierungspfad sind kostenpflichtige Premiumkonten. Der wie App.net aus San Francisco stammende Microbloggingdienst hat solche Forderungen stehts ignoriert. Es sieht danach aus, als schlage App.net nun genau diese Richtung ein. Grundfeatures für die soziale Interaktion kostenfrei, erweiterte Funktionen kostenpflichtig. Und allen Nutzern bleiben Werbung, ausuferende Datenexploitation und unbeliebte, eigennützige Funktionslimitierungen erspart.
Klingt zu schön, um realisierbar zu sein? Vielleicht. Der Schlüssel für Caldwell und sein Team liegt darin, hinreichend viele zahlende Nutzer zu gewinnen, ohne aber den übergeordneten Mehrwert der Plattform für alle seine Teilnehmer zu reduzieren. Momentan liegt die Konversionsrate bei 100 Prozent – weil eine dauerhafte Mitgliedschaft nur gegen Bezahlung möglich ist. Das sichert zwar Einnahmen, aber hält die breite Masse und Developer von der Partizipation ab. Je mehr Features ein künftiger Gratiszugang beinhalten würde, desto attraktiver wäre die Mitgliedschaft in der Theorie für den Internet-Mainstream. Gleichzeitig stiegen dann jedoch die Kosten schneller als die Einnahmen. Eine Balance zu finden, gehört zu den großen Herausforderungen der App.net-Macher. Beziehungweise herauszufinden, ob ein solcher Balance-Zustand überhaupt existieren kann.
Kaum eine Woche vergeht, in der sich Blogger, Journalisten, Datenschutzexperten, Netzaktivisten oder gewöhnliche Webkonsumenten nicht über bestimmte Praktiken der führenden Internetfirmen beschweren. Trotz alle dem ist es bisher keinem einen wirklich andersartigen Ansatz verfolgenden Dienst gelungen, diese latente Unzufriedenheit von Usern so zu kanalisieren, dass daraus ein neues, von Anwendern angenommenes und für einen ernstzunehmenden Wettbewerb hinreichend starkes Konstrukt entsteht. Auch App.net ist davon sehr weit entfernt. Und doch ist es derzeit die einzige Hoffnung, die wir haben.
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